In den Zeiten befangen und gefangen

Ein Statement zur eigenen Geschichte

Ein Statement zur eigenen Geschichte von Pastor Ralf-Peter Greif, Leiter des Konzernbereichs Seelsorge-Theologie-Ethik der Immanuel Albertinen Diakonie.

Zu 150 Jahren Geschichte der Immanuel Diakonie Südthüringen gehört auch das Kapitel dunkelster Zeit von 1933 bis 1945, das nicht verschwiegen werden darf. Und das wir auch nicht verschweigen wollen! In Zeiten wie diesen befangen und gefangen gewesen zu sein, hat Menschen ihr Leben gekostet. Das muss anlässlich unseres Jubiläums auch ausgesprochen werden. Stolpersteine, bereits vor Jahren hier in Schmalkalden verlegt, erinnern an die Ermordung jüdischer Menschen – lassen beabsichtigt über dieses Geschehen stolpern. Kein Einfach-so-weitergehen ist mehr möglich.

Die Stolpersteine weisen uns Spätgeborene unmissverständlich darauf hin, dass auch wir als heutige Immanuel Albertinen Diakonie mit unseren früheren Christlichen Wohnstätten Schmalkalden eindeutig und ganz konkret mit diesem düstersten Kapitel deutscher Geschichte zu tun haben.

19 jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger dieser Stadt sind 1942 in verschiedene Vernichtungslager deportiert worden. Nur eine Frau überlebte. Unter den Verschleppten und dann Ermordeten waren zwei jüdische Bewohnerinnen aus unserer Einrichtung. Sie hießen Gertrud „Trude“ Stiebel und Hildegard Müller. Alle Opfer tragen Namen. Wir kennen noch nicht alle. An jene, von denen wir wissen, erinnern wir heute hier an diesem Ort und zu diesem Anlass.

https://commons.m.wikimedia.org/wiki/File:Stein_des_Gedenkens_in_Schmalkalden_Stiller_Gasse_ 4_Gertrud_Stiebel.jpg | This file is made available under the Creative Commons CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication | Foto: Gmbo 2013
 

Mit Semi Müller sind dutzende Menschen in dieser Zeit im Sinne der NS-Ideologie vom lebensunwerten Leben in Schmalkalden stigmatisiert, beschämt und zwangssterilisiert worden. Wir wissen von mindestens 92 Personen – Bewohnerinnen und Bewohner in den Christlichen Wohnstätten, die einer Zwangssterilisation unterzogen wurden. Was ist aus ihnen geworden? Menschen unter unserem Dach christlicher Nächstenliebe sind zu Opfern des Rassenhasses und Volksgesundheitswahnes geworden.

Vor wenigen Wochen erst haben wir von Olga Dippel erfahren, die aus Schmalkalden nach ihrer dort durchgeführten Zwangssterilisation über andere Einrichtungen in die Tötungsanstalt Hadamar überwiesen und dort im Rahmen des Euthanasieprogramms Aktion T4 ermordet wurde – gegen die bisherige Erzählung aus den Vorjahren, dass alle Schutzbefohlenen vor T4 bewahrt werden konnten.

 

Menschen sind in die Obhut eines christlichen Hauses gekommen oder gegeben worden, das sie letztlich nicht behütet hat. Menschen, die in den Jahren der menschenverachtenden Nazidiktatur in den Christlichen Wohnstätten ihren Dienst an Hilfebedürftigen taten, haben das unsagbare Unrecht nicht verhindert.Menschen, die hier im Sinne christlicher Nächstenliebe – so wie sie diese verstanden – Menschen mit Beeinträchtigung einen Ort zu leben ermög-lichten, sind an deren Leiden und Tod mitschuldig geworden. Schutz-bedürftige, nicht beschützt zu haben, nicht beschützt haben zu können, ist ein furchtbares Versagen.

Wir spüren die Last der Schuld gegenüber den Frauen und Männern unserer Einrichtung, die verstümmelt und ermordet worden sind. Wir sind erschüttert über das, was Menschen anderen Menschen unvorstellbar Grausames anzutun fähig waren. Das Schweigen, Wegschauen, Untätig bleiben – ist für uns heute schwer zu verstehen. Ohne ein Recht zu verurteilen, fragen wir dennoch, warum Christinnen und Christen, die in diesen Jahren in unserer Einrichtung tätig waren, nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben – wie es der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland kurz nach dem Zusammenbruch Nazideutschlands in der Stuttgarter Schulderklärung beklagt.

Fast 40 Jahre hat es gedauert, bis unsere Kirche, der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland, im Jahr 1984 eigene Worte für ein Schuldbekenntnis angesichts der gefehlten Mit-Menschlichkeit gegen-über den Schwächsten der Schwachen gefunden hat. Worte, die ihre Gültigkeit behalten haben und mit denen wir uns zu der Schuld, die hier geschehen ist, bekennen:

„In unserem Volk und durch unser Volk ist viel Unrecht geschehen. Scham und Trauer erfüllen uns, besonders wenn wir an die Verfolgung und Massenvernichtung von Juden denken. Wegen dieser Schuld unseres Volkes bleiben wir auf die Vergebung Gottes angewiesen. Das Böse von Anfang an zu erkennen, war schwerer, als es heute im Rückblick erscheint. Es gab unter uns Menschen, die das damalige Regime durchschauten, davor warnten und sich tapfer dem Unrecht wiedersetzten. Doch wir haben uns nicht öffentlich mit dem Kampf und Leiden der Bekennenden Kirche verbunden und ebenso versäumt, eindeutig den Verletzungen göttlicher Gebote und Ordnungen zu widerstehen. Es beugt uns, dass wir als deutscher Bund der ideologischen Verführung jener Zeit oft erlegen sind und nicht größeren Mut zum Bekenntnis für Wahrheit und Gerechtigkeit bewiesen haben.“

EBF-Kongress, Hamburg 1984

In den Zeiten befangen und gefangen waren Menschen, die in den Christlichen Wohnstätten Verantwortung trugen. Zögerlich, leise und zurückhaltend war auch nach dem Ende der Schreckensherrschaft des Dritten Reiches der jahrzehntelange Umgang mit dem, was in jenen dunklen Jahren passiert ist, passieren konnte.

Mit der Würdigung der 150-jährigen Geschichte des ältesten Diakoniewerkes der Baptisten geben wir der Erinnerung an die Menschen Raum, die – obwohl sie sich dem Schutz und der Obhut unseres Werkes anvertraut haben – Opfer des Verbrechens an der Menschlichkeit geworden sind.

Dieses unfassbare Geschehen in der Geschichte der Christlichen Wohnstätten haben wir als Immanuel Diakonie Südthüringen und als Immanuel Albertinen Diakonie geerbt.

Wir schlagen diesen Teil des Erbes nicht aus, sondern stellen uns dieser Geschichte. Die Aufarbeitung dessen, was Bewohnerinnen und Bewohnern geschehen konnte, steht erst am Anfang.

Die Geschäftsführung hat beschlossen, für diesen Themenkomplex eine unabhängige Forschungseinrichtung zu beauftragen. Ziel ist, die Kenntnisse über das zu vervollständigen, was Menschen erleiden mussten, die in unseren Einrichtungen in der Zeit des Nationalsozialismus gelebt haben.

Wir haben dabei keinen Grund zur Überheblichkeit. Nächste Generationen werden herausfinden, wo wir in unserer Zeit befangen und gefangen waren. Darum gilt gerade auch für uns der letzte Satz aus dem späten Schuldbekenntnis unserer Kirche:

„Wir bitten Gott, dass wir aus diesem Teil unserer Geschichte lernen, um dadurch wacher zu sein im Blick auf die geistigen Verführungen unserer Zeit.“

EBF-Kongress, Hamburg 1984
 
 
 
Alle Informationen zum Thema

Immanuel Pflege Südthüringen

Direkt-Links